(In dieser Stafette wirft der nach British Columbia (CAN) ausgewanderte Heinz Tock einen Blick zurück. Die Beiträge “Per Taxi auf Zeitreise durch die Autostadt Biel” hat Heinz Tock als junger Student und Taxifahrer aufgezeichnet).
Kurzschicht, 18h bis Mitternacht. Eine laue Sommernacht. Ich beende meine Schicht, fahre den Vauxhall zurück zur Firma hinter dem Kino Apollo, tanke auf und schwinge mich auf mein Velo.
Altes Velo (Bild: www.velo-zuerich.ch)
Morgen ist Schule und am Tech wird in der hier beschriebenen Zeit (1956-1959) eine fast lückenlose Absenzenkontrolle gemacht.
Zivilcourage der besonderen Art
Ich strample den Blumenrain hinauf, über die Eisenbahnbrücke.
Mitten auf der Brücke stehen ein Mann und eine Frau. Der Mann würgt die Frau und die Frau schreit: “Au secours!”
Ich halte an und sehe nun, dass am Ende der Brücke eine ganze Traube von Leuten dem Ereignis zuschaut.
Ich will nicht zusehen. Ich stelle mein Rad ab, gehe zu den beiden und sage dem Mann ruhig: “Löt sofort die Frou lo go!” (Lassen Sie sofort die Frau gehen). Der Mann herrscht mich an: “Va te faire foutre” (Verzisch dich). Nicht sehr höflich!
Ich ziehe an seiner Schulter und als er umschaut, haue ich ihm die Faust ins Gesicht.
Nun geschehen verschiedene Dinge fast gleichzeitig:
Der Mann lässt die Frau los und hebt seine Hände zum Gesicht. Seine Augenbraue ist geplatzt , und er ist sofort blutüberströmt.
Die Frau bückt sich, reisst ihren Jupe über die Knies hoch und spurtet davon.
Wie der Blitz verschwindet sie in der Dunkelheit.
In dem Augenblick hält neben uns beiden Übriggebliebenen ein Polizeiauto.
Ein Stadtpolizist steigt aus und fragt verwundert, was den hier los sei. Sie hätten ein Telefon bekommen, wonach ein Mann eine Frau würge und diese um Hilfe schreie.
Ich erkläre den Sachverhalt in kurzen Sätzen. Er ersucht mich, auf den Polizeiposten zu kommen. Mit dem Mann fahren sie hinauf ins Spital.
Ãœberraschendes Wiedersehen
Als ich mit meinem Velo auf dem Posten ankomme, weiss man da schon Bescheid. Der diensttuende Wachtmeister setzt mich auf einen Stuhl, und ich wiederhole meine Geschichte. Er hört sich diese an ohne ein Wort der Unterbrechung.
Dann sagt er: “Dir syt doch vor emene halbe Jahr hie gsi mit däm Soldat.” (Sie waren doch vor einem halben Jahr hier mit diesem Soldaten).
Ich erinnere mich an diese Episode vor einem halben Jahr sehr gut.
Da hatte ich am Bahnhof gestanden und ein mehr als angetrunkener Soldat wünschte, an die Brüggstrasse gefahren zu werden. Seine Uniformjacke stand halb offen, die Mütze auf Sturm und das Bajonett hatte er fast an den Knien unten. Ein trauriger Anblick.
Da war sie wieder, die Frage, ob der Mann mir nicht das Auto vollkotzen werde.
Letztendlich fuhr ich ihn. Er schlief sofort ein und ich musste ihn an der angegebenen Adresse wachrütteln.
1 Bajonett pro Fahrt
Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, wo er war. Ich sagte ihm, wir seien da und nannte den Fahrpreis. Der Mann lachte blöde und sagte: “I ha ke Gäld me. Do nimm mys Bajonett!”
Er nestelte sein Seitengewehr los und legte es auf den Sitz. Dann wollte er aussteigen.
Ich fuhr sofort los, wieder gegen die Stadt und als er fragte, was ich denn tue, sagte ich ihm, ich würde ihn noch ein zu einem Glas einladen. Das Bajonett sei ja viel mehr Wert als die Fahrkosten.
Ihm war dies recht, und ich fuhr in die Altstadt.
Er hatte schon wieder geschlafen, und ich zerrte ihn vor dem Polizeiposten aus dem Auto. Er protestierte und sagte mir, dass dies nicht der Eingang zum Restaurant “Du Théâtre” sei. Das wusste ich auch, aber ich sagte ihm, das sei ein Seiteneingang.
Im Posten legte ich das Bajonett auf den Tresen und erzählte.
Der Wachtmeister kam heraus, führte den Widerstrebenden ins Büro und setzte ihn auf eben den Stuhl, auf dem ich jetzt sitze.
Er fragte nach Name, Adresse und Einteilung. Der Mann gab keine Antwort.
Nun brüllte ihn der Polizist an, dass die Fenster wackelten: “Ufstoh! Mäldet nech jetz sofort a, süsch cheut der öppis erläbe!”(Aufstehen! Melden Sie sich an, sonst können Sie etwas erleben!). Der Mann war so verdattert und beeindruckt, dass er tatsächlich aufstand und mit Mühe so etwas wie eine Achtungstellung annahm. Er meldete sich an.
Strafe genug
Der Polizist erklärte mir nun, dass er einen Rapport aufnehmen und den Mann zur Ausnüchterung bis zum andern Morgen einsperren werde.
Er schaute mich dann an und sagte: “Chischte überchunt dä Ma sowiso. Aber mer wei ihm z’Divisonsgricht doch erschpare. I schrybe nüt vo der Gschicht mit em Bajonett. Sit dr yferschtande?” (In die Arrestzelle des Militärs wandert der Mann sowieso. Aber wir wollen ihm das Divisionsgericht ersparen und ich erwähne nichts vom Bajonett. Sind Sie einverstanden?) Ich war einverstanden, dass das Bajonet im Rapport unerwähnt blieb. Der Mann kam so mit Arrest davon und vermied die Militärjustiz. Und der Polizist wollte den Bericht auch so verfassen, dass ich darin überhaupt nicht erwähnt wurde. Der Mann “wurde aufgegriffen”.
Ich fragte wegen meinem Geld. Er liess den Soldaten, der nun schon fast nüchtern wirkte, seine Taschen leeren. Da kam genügend “Krückenmünz” zusammen, um meine Forderung zu decken.
Wie es auch gewesen sein könnte
Nun sitze ich also selber hier vor diesem selben Wachtmeister. Er fagt mich, ob ich mir Wildwestfilme anschaue. Dort gebe ja auch jeweils der Held dem Bösewicht einen Hieb auf die Nase. Er glaube aber nicht, dass ich der Typ Wildwestheld sei, der, um sich schlagend, Frauen rette.
Könnte es nicht so gewesen sein, dass ich beim Versuch, die beiden zu trennen, ausgerutscht sei und den Mann mit meinem Fingerring verletzt und hier ein wenig aufgeschnitten hätte?
Er schaut mich nicht an und wartet. Nach etwas Ãœberlegung sage ich: “Jaaa, so chönnti das natürlech ou gsi sy” (Jaaa, so könnte das natürlich auch gewesen sein) “Auso”, sagt er darauf, “De näme mir jetz d’s Protokoll uf.” Im Zweifingersystem wird nun der Vorfall protokolliert. Ich unterschreibe und kann endlich nach Hause gehen.
Schadenersatz für kaputte Augenbraue
Kurze Zeit darauf flattert ein Einschreibebrief ins Haus.
Der Barbier verlangt von mir den Gegenwert für drei Tage Lohnhausfall. Seine Augenbraue musste genäht werden. Für den Fall, dass ich mich weigerte, droht er mit Strafanzeige wegen Körperverletzung.
Ich trage das Schreiben auf die Polizei und erfahre dort, wann “mein” Wachtmeister Dienst hat.
Er liest das Schreiben und sagt mir dann, dass der Mann seine Frau im Verdacht hatte, ein Verhältnis mit einem Mann im betreffenden Quartier zu haben. Als er sie zu später Stunde dort angetroffen habe, sei er ausgerastet.
Ich solle den Brief bei ihm lassen, kein Telefon beantworten und unter keinen Umständen den Mann treffen. In einer Woche will er mich wieder sehen.
Anzeigendrohung für den Notfall
Die Woche scheint lang, aber dann sitze ich wieder auf dem schon bekannten Stuhl. Der Wachtmeister informiert mich: Die Frau habe Strafantrag gegen ihren Gatten stellen wollen. Er hätte diese aber überzeugen können, dass dies nur Ärger und Kosten verursachen würde.
Die Frau, welche sich schon entschlossen hatte, die Scheidung anzustreben, war einverstanden. Sie hatte ja für den Scheidungsprozess den Polizeirapport des Vorkommnisses.
Nun bat der Wachtmeister die Frau, ihrem Noch-Gatten mit Anzeige zu drohen, falls er ihren “weissen Ritter”, das war ich, weiter molestiere. Damit ist die Geschichte beendet. Ich erfahre später, dass die Ehe geschieden wurde.
Zum Schluss gibt mir Wachtmeister T. noch den Rat, ich solle mich vielleicht besser nie bei Coiffeurmeister S. rasieren lassen…
♣
Hallo Richard
Sonntagnachmittag. Wir kommen gerade vom Hundespaziergang am Meer zurück.
Es ist zwar kalt, aber in der Sonne hat man schon fast ein wenig das Gefühl von Lenz.
Das ist die letzte meiner Taxigeschichten.
Das Schulheft ist leer.
Wie ich schon sagte: Die Geschichten gehören Dir! Du kannst damit machen, was Du willst; vielleicht bringen sie Deiner Organisation sogar etwas ein. Falls man die Geschichten übersetzt und ich den Pulitzer-Preis erhalten sollte, melde ich mich wieder.
Gruss, Heinz
2 Personen mögen diesen Eintrag.