(297) Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen
(In dieser Stafette wirft der nach British Columbia (CAN) ausgewanderte Heinz Tock einen Blick zurück. Die Beiträge “Per Taxi auf Zeitreise durch die Autostadt Biel” hat Heinz Tock als junger Student und Taxifahrer aufgezeichnet).
Es ist eine schöne Frühsommernacht und wieder stehe ich in der Warteschlange am Bahnhof. Meine Schicht begann um 18h, und es war bis jetzt nicht allzu viel los.
Mitternacht ist vorbei; der Bahnhof geschlossen.
Warum nicht?
Vor mir sind drei Wagen; ich werde wohl etwas warten müssen.
Ich lese ein Buch, sehe aber trotzdem, wie ein älterer, schwerer und grosser Mann zum ersten Taxi hinzutritt. Er spricht mit dem Täxeler und geht dann zum nächsten Wagen.
Er spricht auch dort kurz mit dem Fahrer und geht dann zu dem vor mir stehenden.
Wieder wechselt er ein paar Worte, die ich nicht verstehen kann, und dann kommt er zu mir.
“I wott hei, fahrsch mi?” herrscht er mich an.
Ich erkenne unschwer, dass der Mann angetrunken ist. Aber er ist nicht betrunken. Ich hätte keine Lust, das Taxi zu putzen.
“Warum wei die angere di nid fahre?” frage ich.
“Das si blödi Sieche, si säge, I sig bsoffe.”
Warum doch?
Sollte der Novize hier wieder klüger sein wollen, als die Berufstaxifahrer, frage ich mich.
“Wohäre wotsch?” ist meine nächste Frage. Er nennt einen Ort am rechten Bielerseeufer. Wider besseres Wissen lade ich den Mann, und wir fahren.
Der Mann spricht kein Wort, und ich bin auch nicht gerade gesprächig aufgelegt.
Die Nacht ist dunkel und irgendwann sagt er: “Der nächscht Wäg links abe!”
Ich verlangsame und suche die Einfahrt. Ich biege in den Weg ein und er sagt:
“Das Huus dört.”
Ich halte an und schaue ihn an. Er steigt aus und sagt: “Chum ine, I bruche Liecht!”
Ich folge ihm ins Haus und in eine Wohnküche. Er fragt, was er mir schulde,
und ich nenne den Betrag, sieben Franken fünfzig.
Er zieht den Geldbeutel aus der Tasche, wirft einen Fünfliber (Fünffrankenstück) auf den Tisch und sagt: “Nimms und hou ab!”
Die Rechnung ohne den Fahrer gemacht
Ich bleibe vorerst ruhig und sage ihm, dass ich 7.50 abrechnen müsse und wohl kaum “draufzahlen” wolle.
Er nimmt das Geldstück wieder vom Tisch, steckt es in die Tasche und sagt: “Jetz mach, dass de furt chunsch, süsch erläbsch öppis!”
Jetzt kommt mir die Galle hoch: “Du Dräcksack, probiers!”
Da er zwischen mir und der Türe steht, habe ich ein Problem. Er öffnet ganz ruhig einen Schrank, dem er einen “Geislestäcke” (Peitschenstiel) entnimmt.
Langsam kommt er auf mich zu.
Da klopft es von nebenan an die Wand, und eine Frauenstimme schreit:
“Göt zum Fänschter us, är schlot nech süsch halb z’tod!
I bringe nech z’Gäld morn.”
“Geplanter” Rückzug
Ich gehe langsam und rückwärts zum Fenster, aber er ist schon fast bei mir.
Er hebt das Peitschenholz.
Nun greife ich in die Tasche und ziehe meine kleine Pistole. Ebenso ruhig wie er, lade ich die Waffe durch, sie ist gesichert, und sage: “No e Schritt Mano, und dys Chneu isch wäg!” Er stoppt sofort und geht einen Schritt zurück.
Ich öffne das Fenster, die gesicherte Waffe immer auf sein Knie gerichtet.
Ein Bein über die Fensterbank, dann das zweite. Ich bin draussen, und er hat sich bis jetzt nicht bewegt.
Ich renne um das Haus herum, da kommt er schon aus der Türe, seine “Waffe” hocherhoben.
Ich flitze ins Auto, starte den Motor ohne die Türe zu schliessen und fahre laut hupend auf ihn zu. Er muss zur Seite gehen, und ich bin weg.
Warum nicht gleich?
Mit Adrenalin durchtränkt, fahre ich langsam gegen den Bahnhof zurück.
Ich lasse mir die Ereignisse des Abends durch den Kopf gehen.
Drei Taxifahrer haben den Mann abgewiesen.
Der Wahnsinn muss Methode haben!
Ich reihe mich ein und greife zu meinem Buch. Die Kollegen stehen in einer Gruppe zusammen und kommen dann auf mich zu. “Hesch der alt K. heibrocht?”
“Ja”, sage ich, “warum?” Ich höre hier zum ersten Mal, dass die Täxeler den Mann per Namen kennen.
“Het er Di nid lo abe fahre zum Huus?”
“Mou, warum?”
“Bisch id’s Huus ine gange?”
“Gopf, warum? Är hett Liecht bruucht.”
“Hesch z’Gäld?”
“Was söu die blödi Fragerei. Natürlech han i z’Gäld.”
Eine glatte Lüge!
Da sagt einer: “Jetz chumen’i nümme noche, der K. wird alt!
Und er verrät mir, dass der letzte Täxeler, der sich von K. ins Haus locken liess,
auf allen Vieren zum Auto gekrochen sei, während K. auf ihn einhieb.
Alter Berner “Geist”
Am andern Tag kommt Frau K. zum Bahnhof und bringt mir mein Geld. Sie entschuldigt sich sehr, und ich tröste die arme Frau. Sie hat es mit diesem Manne wahrlich nicht leicht.
Und sollte jemand gar erraten, um wen es sich hier gehandelt hat, so verrate ich hier etwas. Ich habe später mit K. Frieden geschlossen und seine Familie wurde sogar mit der meinen nahe befreundet.
Möge diesem alten Seeländer, der wohl ins falsche Jahrhundert geraten war, die Erde leicht fallen. Ich glaube, die Nachkommen leben immer noch auf dem Hof.
Und wenn man sich heute fragt, wo denn hier die Polizei oder das Gericht waren, sich mit einem solchen Schläger zu befassen, so sage ich: Es war zwar schon das 20. Jahrhundert. Aber der alte Berner Geist wirkte noch ein bisschen nach. Wegen einer Prügelei machte man “kein Büro auf”. A Bärner Gring geit nid so liecht kaputt. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, den Mann zu verzeigen.
Nun noch eine Anmerkung zu meiner “Walther 6.35″, welche mich auf allen Fahrten begleitete. Damals galt im Kanton Bern absolut freies Waffentragen.
Ich war schon als Kind ein Waffen-Narr, “a weapons fool” wie mich die “Bleeding Hearts” auch hier in Kanada nennen. Mit 18 Jahren sparte ich mir einen Teil des Geldes zusammen und meine Grossmutter gab mir im Versteckten einen Batzen.
Dann ging ich zum Waffenhändler Iseli und kaufte mir diese Gebrauchtwaffe.
Mein Vater kam dann durch Zufall dahinter, und bis ich in die Rekrutenschule einrückte, blieb sie hinter Schloss und Riegel.
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