Elisabeth Hilfiker
  2002 nach Apulien (ITA) ausgewandert.

(375) Wenig Büro-, viel -Kratie

Für den Antrag der Aufenthaltsbewilligung musste ich damals noch nach Lecce fahren. Wer nicht bei jeder Witterung stundenlang draussen auf dem Trottoir warten wollte, fand sich vorteilhafterweise schon zwei, drei Stunden vor der offiziellen Öffnungszeit vor Ort ein.

Man kennt sich unter Bittstellern

Für mich hiess das, Aufbruch schon in der Morgendämmerung. Diese Fahrten habe ich richtig lieb gewonnen! Die leeren Strassen, das wunderbare Licht, das Erwachen des Tages… Meist war ich eine der ersten, die vor dem heiligen Amt eintraf. Wir waren ein buntes Völklein, das sich da versammelte. Alle von derselben Hoffnung auf eine Aufenthaltsbewilligung getragen, aber nicht alle gleich behandelt von den Mächtigen da drinnen! Was ich da mit ansehen musste, hat mir eine schwache Ahnung gegeben, wie viele Demütigungen sich Menschen anderer Rasse oder Hautfarbe gefallen lassen müssen, wenn sie nicht erwünscht sind. Da immer irgendetwas mit den mitgebrachten Dokumenten nicht in Ordnung war, oder die Gesetze nicht mehr dieselben waren oder oder, oder, (das hat System!), trafen sich immer wieder etwa die gleichen Bittsteller zur gleichen Zeit. Man kannte sich. Nicht alle Beamten waren so schamlos ekelhaft. Wenn ich voraussehen konnte, dass ich mit meiner Wartenummer das Glück hatte, am Schalter eines netten Menschen bedient zu werden, tauschte ich manchmal mein Ticket mit einem Leidensgenossen, der weniger gute Chancen hatte, zu seinem Dokument zukommen als ich. Dafür wurde ich das nächste Mal mit süssem Kaffee und senegalesischem Gebäck verwöhnt, draussen, in der Platanenallee, wo sich die Bittsteller treffen.

Der italienische Ritterschlag: Nummerschild und Führerschein

Jetzt fehlten nur noch die italienischen Autonummer-Schilder und der italienische Führerschein. “Scusi, wie komme ich zu einem italienischen Führerschein?” frage ich friedfertig im Verkehrsamt. Als Erstes, so sagte man mir, müsse ich eine Sehprüfung absolvieren. “Wo?” Im Spital von Tricase, selbstverständlich. Also nichts wie hin, selbstverständlich. Warten… Auch da sind sie sind nicht zuständig, selbstverständlich. “Was glauben Sie eigentlich, wofür wir hier sind?” Ich glaube gar nichts mehr, aber das sage ich nicht. “Also, wo?” Im Spital von Galignano. Dann nichts wie hin. 15 Km. Warten. “Sehprüfung?” Ist leider nicht möglich, der Arzt ist heute nicht da. Buongiorno. “Tschüsss!” Am nächsten Tag ist er da, nett und gesprächig, macht mit modernsten Apparaturen den Sehtest.

Die Zuständigen in Tricase akzeptieren das Dokument nicht - selbstverständlich - mit der lapidaren Begründung, es stehe nicht das drin, was sie brauchen würden. Achtung, bei mir brodelt’s gewaltig! „Da steht doch klar und deutlich, in Dioptrien ausgedrückt, dass ich kursichtig und Brillenträgerin bin. Genügt das nicht!?” „Nein.” „Brauchen sie meine Schuh-Nummer!!?” Ich verliere die Kontrolle über mich, heule fast vor Erschöpfung und Wut.

Ich sehe!

Damals habe ich die Wirksamkeit des Sitzstreikes entdeckt: Breit und unnachgiebig wie eine giftige Qualle klebe ich an meinem Stuhl im engen Büro und komme der Aufforderung, nun endlich zu gehen, nicht nach. „Sie können die Polizei rufen, oder die Ambulanz oder den psychiatrischen Dienst, oder den Papst, mir egal, ich verlasse diesen Raum nicht freiwillig! Ich will das Dokument!” Palaver, Palaver, dann das Lösungsangebot: „Wir machen jetzt den richtigen Sehtest mit Ihnen!” Das war der, mit den vielen E, die auf alle Seiten verkehrt sind und immer kleiner werden. Und das in einem Büröchen, das kaum Platz für drei Menschen und einen Schreibtisch bot! „Sehen sie”, sprach der Beamte tief befriedigt, “man muss sich nur zu helfen wissen!” Und wie ich gesehen habe! Wenn wir uns irgendwo begegnen, freuen wir uns immer herzlich.

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